Interview mit Wolfgang Christ anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Tagesstätte im Café Pinjo

[Berlin, 14.09.2017]

Herr Christ, am 22. September feiert die Beschäftigungstagesstätte im Café Pinjo ihr 20-jähriges Jubiläum. Sie sind ja mit Unterbrechungen bereits seit 1990 für Pinel tätig und haben im Jahre 1997 die Tagesstätte mit aufgebaut. Wie kam es zur Entstehung der Tagesstätte und wie haben Sie es persönlich miterlebt?

©Pinel gGmbH

Zunächst wurde ein Patienten-Club in den Binger-Club, unsere Kontakt- und Beratungsstelle, verwandelt. Aus der Kooperation zwischen der Kontaktstelle und dem Sozialpsychiatrischen Dienst entstand zudem die Idee, Betreutes Wohnen zu entwickeln. Das, was wir heute als Versorgungsnetz in der Gemeindepsychiatrie kennen, gab es zu damaliger Zeit gar nicht. In drei Etappen entstand dann das heutige Betreute Einzelwohnen (BEW), das es heute noch immer gibt. In den 90er Jahren kam man zum Entschluss, dass man Landesnervenkliniken in die Gemeinde holen musste. Der Psychiatrieentwicklungsplan – die Psychiatrie-Enquete – sah dann gemeindenahe Versorgung von psychisch beeinträchtigten Menschen vor, mit einer Klinik, einer Kontakt- und Beratungsstelle usw. In diesem Zusammenhang wurden in Berlin 1500 Betten in einer Langzeitstation aufgelöst. Die frei gewordenen Finanzmittel wurden in größere Wohneinrichtungen und in die Tagesstätten investiert. Die Menschen, die aus den Langzeitstationen entlassen wurden und noch nie eine eigene Wohnung hatten, mussten ja betreut werden. Einige dieser ehemaligen Langzeitpatienten sind dann in unsere damals entstandene Beschäftigungstagesstätte gekommen. Im Oktober 1997 haben wir erste Menschen hier empfangen, die bei uns eine feste Tagesstruktur jenseits der Betreuung zu Hause vorgefunden haben.

Wofür steht eigentlich der Name der Tagestätte?

Das haben sich unsere kreativen KlientInnen ausgedacht. Das Wort setzt sich ja aus den ersten drei Anfangsbuchstaben des Namen Pinel sowie zwei Anfangsbuchstaben der Johannisberger Straße, in der sich das Café Pinjo befindet.

Welche Tätigkeiten haben die KlientInnen im Café Pinjo?

Die Arbeit in der Tagesstätte beruht auf dem Drei-Säulen-Prinzip. Es gibt den gastronomischen Teil – ich nenne es geschützte Arbeit. Es gibt zudem den gesprächs- und ergotherapeutischen Bereich – als zweite Säule. Darüber hinaus gibt es die Bezugsbetreuung als dritte Säule. Hier versuchen wir gemeinsam mit KlientInnen festzulegen, wie viel Arbeit für sie sinnvoll ist bzw. welchen Bedarf die jeweilige Person hat. Zudem wird in den Gesprächen mit den Bezugsbetreuern besprochen, wie viel Ausgleich zur Arbeit erforderlich ist. Dieser Ausgleich findet dann im Rahmen der Ergo- oder Gesprächsgruppen statt. In den Gesprächsgruppen werden Themen aus dem Alltag diskutiert. Wir erinnern uns beispielsweise an Musik, die KlientInnen bei für sie wichtigen Ereignissen gehört haben, und hören uns anschließend die musikalischen Werke an.

Diese drei Säulen sollten so ausgewogen sein, damit sie ein stabiles Fundament für die KlientInnen darstellen. Es gibt Menschen, die eine gewisse Zeit sehr viel individuelle Aufmerksamkeit bzw. Bezugsbetreuung brauchen. Sie können dann natürlich weniger in der Arbeit, weniger in der Gruppe sein. Andersherum gibt es Leute, die fast nur in der Arbeit sind, praktisch täglich. Sie sind dementsprechend weniger in den Gruppen und brauchen unter Umständen nur punktuell eine Beratung.

Wir oft kommen die KlientInnen in die Beschäftigungstagesstätte?

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Menschen, die hierher kommen, haben einen unterschiedlichen Bedarf. Manche kommen zweimal in der Woche, andere sind bei uns von Montag bis Freitag. Es gibt Leute, die rund ums Café mehr arbeiten. Andere wiederum arbeiten in einem sehr kleinen Umfang. Sie verbringen ihre Zeit mehr in den Gruppen. Das hängt sehr davon ab, wie deren Befindlichkeit aktuell ist. Es hängt aber auch davon ab, was sie sie sich mittel- und langfristig vorstellen. Wenn jemand jünger ist und eine Reha machen möchte, dann wird er sich entsprechend weniger in den Gesprächsgruppen aufhalten und mehr mitarbeiten, da das Anspruchs- und Leistungsniveau perspektivisch anders werden muss. Wir versuchen dementsprechend, die Mitarbeit der KlientInnen zu dosieren. Darüber hinaus versuchen wir, den Menschen in der Bezugsbetreuung und in der Gruppenarbeit Achtsamkeit beizubringen.

Welcher Arbeitsumfang ist für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen denn sinnvoll?

Bei den Menschen, die bei uns viel arbeiten wollen, schauen wir gemeinsam wie viel Arbeit gut für sie ist. Schließlich ist die Mehrheit unserer KlientInnen durch eine Überforderungssituation im Beruf krank geworden.

Gibt es in Pinjo KlientInnen, die seit der Gründung der Tagesstätte dabei sind?

Ja, das gibt es in der Tat. Es gibt 4 Leute, die mehr oder weniger von Anfang an dabei sind. Zwei Frauen sind jetzt in einem Slow Motion – Projekt, wo sich mehr entspannen können als in unserem Café-Betrieb. Eine Reihe von KlientInnen kenne ich seit Anfang der 90er Jahre – das ist eine sehr lange Zeit. Für jüngere Leute ist es kaum vorstellbar, dass man eine Biografie so lange miterlebt.

Welche positiven Effekte hat Ihre Tagesstätte auf Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Entscheidend ist, dass die Menschen, die bei uns arbeiten, sich als ganz normale Dienstleister wahrgenommen fühlen. Für die meisten unserer Kunden ist es eher unerheblich, ob die Bedienkräfte bzw. das Küchenpersonal psychische Beeinträchtigungen haben.

Grundsätzlich kann eine Tagesstätte mindestens 3 Phänomene bewirken. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Menschen aus einer sehr in sich gekehrten Welt sich in einer anderen Welt bewegen können. Dank Tagesstätten müssen Menschen weniger oder gar nicht in die Klinik. Die Bewegung der Drehtür in die Psychiatrie verlangsamt sich deutlich. Darüber hinaus verkürzt sich die Dauer der Aufenthalte in Kliniken. Die KlientInnen haben ja nach der Entlassung auch etwas, wo sie hin können, wo sie gut aufgehoben sind. Das sind alles Dinge, die es in den 80er und 90er Jahren so nicht gab.

Wie viele KlientInnen werden im Café Pinjo beschäftigt?

In der Tagesstätte haben wir zurzeit 30 KlientInnen mit unterschiedlichem Hilfebedarf. Darüber hinaus werden im externen Zuverdienst 50 bis 60 Menschen beschäftigt. Sie werden in den Bereichen Gebäudereinigung, Gartenpflege sowie Wäschereien eingesetzt und über Zuwendungen finanziert. Die „Zuverdienstler“ werden zum Teil von Pinel oder anderen Trägern betreut und haben eine sogenannte multiple Vermittlungshemmnis. Die KlientInnen aus der Beschäftigungstagesstätte werden nach den Bestimmungen im Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) finanziert.

Handelt es sich bei der Beschäftigungstagesstätte und dem Zuverdienst um ein zusammenhängendes Konzept?

Bei der Beschäftigungstagesstätte und dem Zuverdienst handelt es sich um ein zusammenhängendes Konzept. Der Zuverdienst ist ja unter dem Dach der Beschäftigungstagesstätte angesiedelt. In diesem Zusammenhang tauschen wir ja uns regelmäßig mit den AnleiterInnen vom Zuverdienst aus, von denen einige, wie Maria Krone oder Tobias Eifert, schon lange bei Pinel tätig sind. Dazu haben wir eine Mitarbeiterin, die den Bereich koordiniert.

Wie viele MitarbeiterInnen sind in der Beschäftigungstagesstätte tätig und wie stimmen Sie sich untereinander ab?

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Wir sind im Café Pinjo insgesamt 7 KollegInnen. Hinzu kommen 6 AnleiterInnen aus dem externen Zuverdienst. Alle MitarbeiterInnen haben ganz unterschiedliche berufliche Qualifikationen. Unter ihnen sind Ergotherapeuten, Köche, Experten für Wäsche oder Garten. Alle haben ganz unterschiedliche Ansprüche und Sichtweisen. Es ist auch deswegen eine tolle Herausforderung, mit den KollegInnen über die vielen Jahre zusammen zu arbeiten. Dieses Team hat eine gemeinsame professionelle Sprache. Das ist für die Arbeit mit KlientInnen sehr wichtig. Für die Leute sind wir hier alles – Vorbilder, Entertainer, bei uns kann man sich unter Umständen „ausweinen“, wir haben immer einen Rat.

Unternehmen die MitarbeiterInnen der Beschäftigungstagesstätte auch gemeinsame Ausflüge mit KlientInnen?

Jedes Jahr bieten wir eine wöchentliche Gruppenreise an. Das ist für KlientInnen und uns ein wichtiges Ereignis. Entscheidend ist hier das Erlebnis in der Gemeinschaft. Die wenigsten KlientInnen können sich sonst Ausflüge leisten und wegen ihrer Beeinträchtigungen kommen sie aus Berlin gar nicht raus.

Was erwartet die Gäste bei der Jubiläumsfeier am 22. September?

Wir organisieren Rundgänge durch unsere Räumlichkeiten, bei denen wir über die Angebote unserer Beschäftigungstagesstätte informieren werden. Unsere Mediengruppe wird zudem einige Kurzfilme vorführen. Unsere Gäste erwartet ein Buffet, u.a. mit Kaffee und Kuchen. Persönlich freue ich mich auf die Akteure der ersten Stunde, die vor 20 Jahren an der Entstehung dieser Beschäftigungstagesstätte beteiligt waren.