Am 28. Februar hielt die US-amerikanische Psychiaterin und Versorgungsforscherin Prof. Sandra Steingard im Pinellodrom, dem Kultur- und Veranstaltungszentrum des Pinel Verbundes, einen Vortrag zum Thema „Slow Psychiatrie“.
Frau Steingard diskutierte zunächst die Spannung zwischen einer krankheitszentrierten und einer medikamentenfokussierten Perspektive. Im einen Fall steht die Krankheit im Mittelpunkt und das Medikament wird nur in seiner Wirkung auf die Krankheit in Augenschein genommen. Im anderen Fall konzentriert man sich auf Wirkungen (und besonders die nicht gewünschten Nebenwirkungen) von Medikamenten und ihre Folgen für Gesundheit, Leben und Lebensqualität des Medikamentenkonsumenten. „Die Einnahme von Medikamenten kann dazu führen, dass Menschen weniger Antriebe haben. Sie sind weniger geneigt zu arbeiten oder Freundschaften zu pflegen“, sagte Frau Steingard. Diese Effekte könnten Frau Steingard zufolge eine Langzeitwirkung entfalten. Bei Klienten, die Medikamente reduzierten oder absetzen, könne es zwar zu Rückfallerscheinungen kommen, gleichzeitig zeigen aber viele Studien, dass vorsichtige Medikation, sensible Reduktion bis hin zum völligen Ausstieg mit einer wesentlich höheren Recovery-Rate, Beziehungsqualität und größeren Arbeitsmarktchancen einhergehen.
Des Weiteren sprach sich die Psychiatrie-Expertin für die Integration von einem im oben genannten Sinne medikamentenfokussierten und dem bedürfniszentrierten Ansatz in der Psychiatrie aus. So sei der „Open Dialog“ eine der möglichen bedürfnisorientierten Herangehensweisen. Dabei gehe es zum Beispiel um die Art und Weise, wie mit Betroffenen gesprochen werde, erläuterte Frau Steingard. Am Offenen Dialog nehmen diejenigen Personen aus dem sozialen Netzwerk eines Betroffenen teil, die in seinem Leben und seinen Krisen eine wichtige Rolle spielen. Hier werde Wert darauf gelegt, Menschen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt zu stellen, unterstrich Frau Steingard. „Im Rahmen von Open Dialog haben Familien die Möglichkeit, schwierige Probleme anzusprechen, die durch die Erkrankung eines Angehörigen entstanden sind. Beim Offenen Dialog wird nach Lösungen gesucht und auf gegenseitiger Augenhöhe über die Möglichkeiten der Behandlung diskutiert“, führte Frau Steingard aus.
Medikamente seien zwar für manche Klienten ein wichtiges Behandlungsinstrument, aber kein Allheilmittel. Die Integration des medikamentenorientierten- und des bedürfnisorientierten Ansatzes würde zu einer menschenwürdigeren Behandlung von Betroffenen beitragen, schlussfolgerte Frau Steingard.
In der anschließenden regen Diskussion mit den ca. 60 Teilnehmern wurde einmal mehr die Bedeutung der Faktoren Beziehung und Zeit herausgestellt, die gelungene Kommunikation und bedarfsangemessene Psychiatrie ausmachen.
Sandra Steingard ist Medical Director des Howard Center in Burlington, Vermont, USA. Sie engagiert sich in der Versorgungsforschung und beschäftigt sich mit Alternativen zur (ausschließlich) medikamentösen Behandlung. Frau Steingard gehört zum Autorenkreis der Stiftung Mad in America (www.madinamerica.com).
Die Gastgeber*innen der Veranstaltung waren die Psychiatrie-Betroffenen Organisation BOP&P sowie die Stiftung Pinel. BOP&P fokussiert auf den Aufbau von Selbsthilfegruppen, auf Informations- & Erfahrungsaustausch, Öffentlichkeitsarbeit und die Vertretung Berliner Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatriebetroffener auf allen Ebenen. Die Stiftung Pinel setzt sich für eine Anerkennung der Menschen mit psychischer oder geistiger Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft als Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten ein.