Berlin, 06.06.2018 – Am 6. Juni startet der 21. Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit. An der renommierten Veranstaltung nehmen neben der Fachöffentlichkeit auch über 8.000 Entscheider*innen aus dem Gesundheitswesen und der Politik teil. Im Rahmen des Hauptstadtkongresses findet das Forum Psychische Gesundheit statt. Das diesjährige Forum steht unter dem Titel „Seelische Erkrankung und dann? Berliner Versorgungsstrukturen stellen sich vor.“
Wir sprachen mit Marius Greuél, dem Geschäftsführer von Pinel Medizin, über die Themen des Forums.
Herr Greuél, was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Highlights beim diesjährigen Forum Psychische Gesundheit?
Aus meiner Sicht sind es drei ganz wichtige Innovationen: Ein Highlight ist der Vortrag des Geschäftsführers von Pinel Netzwerk, Herrn Dr. Thomas Floeth, zur Kooperation mit dem Verein für Psychiatrie und Seelische Gesundheit. Zusammen mit der Vorsitzenden des Praxisnetzes für Psychiatrie, Frau Dr. Alicia Navarro Urena, werden die beiden Referent*innen ausloten, welche Vernetzungen und integrierten Lösungen im Rahmen der Gemeindepsychiatrie, insbesondere mit den Kliniken und den Rehabilitationsträgern, möglich sind und inwieweit in Berlin unterschiedliche Modellvorhaben umsetzbar wären. Das ist ein ausgesprochen zu empfehlender Kongressbeitrag, der am 6. Juni, von 15:45 bis 16:30 Uhr, am Stand des Forums für Psychiatrie stattfindet.
Ferner werden in einem anderen sehr interessanten Vortrag die Ergebnisse unseres Vertrags mit verschiedenen Krankenkassen zum Thema „Fallmanagement – Unterstützung für Menschen mit längeren Erkrankungsperioden“ am 7. Juni, von 11:30 bis 12:30 Uhr vorgestellt. Die Projetleiterin dieses integrierten Versorgungsvertrages, Frau Kathrin Rieckhof-Kempen, wird die aktuellen Ergebnisse des Projektes vorstellen. Wir sind selbst gespannt, welche Wirkungen der Vertrag nach 3 Jahren realisieren konnte.
Drittes Highlight ist der Vortrag zum Thema „Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch die private Krankenversicherung“. Das betrifft die Betroffenen der privaten Krankenversicherer, einschließlich der Beihilfe. Derartige neue Versorgungsformen können auch für Privatversicherte auf den Weg gebracht werden. Diese Veranstaltung findet am Freitag, den 8. Juni, von 11:30 bis 12:30 Uhr, statt.
Eines der Themen des Forums heißt „Versorgungsmodelle in Kooperation mit niedergelassenen Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen“. Warum ist die Zusammenarbeit zwischen Hausärzt*innen und Spezialisten für die psychosomatische Grundversorgung von Bedeutung?
Die Bedeutung der Zusammenarbeit, wir sagen dazu eine interdisziplinäre oder eine multiprofessionelle Zusammenarbeit, ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, da rund 60 Prozent der Patient*innen mit seelischen Erkrankungen, insbesondere mit Depressionen, Hausärzt*innen aufsuchen.
Das heißt, Hausärzt*innen sind oftmals wichtige Verordner, Erstkontakte, die dann an Psychiater*innen überweisen. Und um diese Wege und insbesondere Wartezeiten zu verkürzen, ist das Modell in den medizinischen Versorgungszentren und auch bei Pinel Netzwerk die Grundlage dafür, dass Hausärzt*innen mit den Psychiater*innen, mit den Nervenärzt*innen und mit den Psychotherapeut*innen unter einem Dach zusammenarbeiten.
Inwieweit können Patient*innen vom Austausch zwischen verschiedenen medizinischen Sektoren profitieren?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Insbesondere, da die Verweildauer von Patient*innen im stationären Bereich (im Krankenhausbereich) trotz der alternativen Versorgungsmöglichkeiten über Tageskliniken oder die Psychiatrischen Institutsambulanzen und der bestehenden vertragsärztlichen Versorgung immer noch relativ lang ist. Wir hatten vor 20 Jahren eine Verweildauer von über 30 Tagen. Mittlereile sind es ca. 20 Tage. Wir sind aber der Meinung, dass viele Patient*innen kürzer oder möglicherweise auch ohne Krankenhausversorgung ambulant im Rahmen vernetzter Strukturen gut behandelt werden können. Deswegen ist die enge Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten und stationären Sektor besonders wichtig. Uns geht es aber nicht nur um die Frage der Versorgung im medizinischen Bereich. Wir decken auch die Bereiche der psychiatrischen Krankenpflege, der Wohnbetreuung und der Unterstützung für die Sicherung des Arbeitsplatzes ab und arbeiten auf diese Weise mit Ärzt*innen und mit Psychotherapeut*innen intersektoral zusammen.
Haben Patient*innen die Möglichkeit, nach einer Reha die Angebote der ambulanten Gemeindepsychiatrie in Anspruch zu nehmen?
Auch eine sehr wichtige Frage. Auch hier haben wir oftmals eine Schnittstelle zwischen Reha und dem Bereich der Versorgung im somatischen und psychiatrischen Bereich. Die gemeindenahe Psychiatrie hat insbesondere ein Modell der ambulanten Rehabilitation psychisch erkrankter Menschen auf den Weg gebracht, das mittlerweile von den Krankenkassen bezahlt wird. Von daher ist die Möglichkeit, dass rehabilitative Leistungen nicht nur durch den Rentenversicherungsträger, sondern auch über die Krankenkassen in Anspruch genommen werden, ausgesprochen wichtig. Das heißt also, die Bereiche Behandlung, Pflege, Betreuung und Rehabilitation sehen wir als eine gemeinschaftliche Aufgabe. Hier hat sich der Begriff „Stepped Care“ etabliert. Das bedeutet, Versicherte, Patient*innen oder Klient*innen sollen an der Stelle versorgt werden, wo es für sie individuell sinnvoll und bedürfnisgerecht ist.
Ein wichtiges Thema beim Forum ist auch die Integrierte Versorgung bei Arbeitsunfähigkeit. Welche Vorteile bietet diese Art der Versorgung?
Für uns ist die Situation, bei der Menschen mit psychischen Erkrankungen zum Teil eine lange Phase der Krankengeldzahlung erfahren, oft über viele Monate oder sogar zum Teil über 1-2 Jahre und so ein hohes berufliches Risiko erfahren, so nicht akzeptabel. Sozialpolitisch ist es von Bedeutung, dass diese Menschen wieder in Arbeit und damit in soziale Gemeinschaft integriert werden. Die Integrierte Versorgung ist ein Teilbereich der Krankenversicherung. Für die Krankenkasse stellt sich die Frage, ob Lohnfortzahlung oder Krankengeldzahlung erfolgen soll. Aber die weitere Situation der Arbeitsunfähigkeit, also für Langzeiterkranke, ist für die gesetzliche Krankenversicherung nicht relevant. Deswegen ist es für uns wichtig, hier für Menschen Brücken zu bauen, die lange Zeit arbeitsunfähig bleiben, sie zu betreuen, zu begleiten. Dazu haben wir spezielle Verträge mit Krankenkassen abgeschlossen, sodass Klient*innen von uns 3 Jahre lang betreut werden können.
Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Angeboten für die Behandlung von psychisch beeinträchtigten Menschen. Können sich Patient*innen zwischen den unterschiedlichen Angeboten entscheiden oder hängt die Behandlungsmethode auch vom Leistungsumfang der jeweiligen Krankenkassen ab?
Mit der Frage ist etwas Wichtiges angesprochen. Das ist die Frage nach den Selektivverträgen. Die Krankenkassen sind frei, in der Gestaltung jenseits der Regelversorgung eigenständige Verträge abzuschließen. Von daher kann es sein, dass Versicherte einer bestimmten Krankenkasse im Rahmen der besonderen Verträge andere Leistungen bekommt als Versicherte einer anderen Krankenkasse. Langfristig versuchen wir im Rahmen von Modellvorhaben, in die alle Versicherten mit eingeschlossen werden können, dieses Problem zu überwinden. Ansonsten kann man sagen, der gemeindepsychiatrische Verbund bietet hier durch eine entsprechende Vernetzung der Angebote für alle Versicherten die Möglichkeit an, diese Angebote zumindest kennenzulernen, beraten zu werden und im Einzelfall möglicherweise zu überlegen, einen Kassenwechsel vorzunehmen. So könnten Patient*innen beispielsweise diese speziellen Angebote der Techniker Krankenkasse bekommen.
Vor welchen Herausforderungen steht die Integrierte Versorgung?
Das ist eine langfristige Frage, die auch etwas mit dem Innovationsfonds zu tun hat. Seit 3 Jahren gibt es die Möglichkeit, dass die Krankenkassen mit einem großen Budget Modelle zusätzlich finanzieren und erproben und damit der Integrierten Versorgung auch ein Stück weit helfen, zu besseren Ergebnissen zu kommen. Das Problem der Integrierten Versorgung ist oftmals die Abbildung der Ergebnisse – also dass man nach 3, 4 Jahren entsprechend weiß, ob diese Form der Intervention, wie zum Beispiel eine komplexe therapeutische Begleitung, wirklich wirksam ist. In diesem Zusammenhang können im Rahmen des Programms des sogenannten Innovationsfonds, der zusätzlich über Projektmitteln finanziert wird, solche Modellvorhaben evaluiert und im Erfolgsfall in die Regelversorgung übertragen werden. Das ist eine innovative Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung.
Welche Versorgungsprogramme gibt es für PKV- und Beihilfeversicherte?
Private Krankenversicherungen und die Beihilfe sind vom Bereich der Integrierten Versorgung nicht einbezogen, da dies eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Die Privatversicherer bemühen sich aber immer stärker, diese Erfahrungen und Interventionsmöglichkeiten umzusetzen und an der Entwicklung zu partizipieren. Mittlerweile erleben wir häufig, dass einzelne Gesellschaften für ihre Privatversicherten Angebote mitübernehmen. Wir sind mittlerweile mit verschiedenen Versicherungsunternehmen im Gespräch, auch mit Vertreter*innen der Beihilfe, um hier bundesweite, flächendeckende Verträge über den Dachverband der Gemeindepsychiatrie auf den Weg zu bringen. Dafür gibt es am Freitag einen entsprechenden Programmpunkt auf unserem Forum, bei dem wir dieses Thema der Öffentlichkeit vorstellen.
Auf der Agenda des Hauptstadtkongresses steht auch die Digitalisierung in Psychiatrie und Psychotherapie. Welche Folgen wird die Digitalisierung in Psychiatrie für Patient*innen haben? Welche Herausforderungen der Digitalisierung müssen aktuell bewältigt werden?
Das Thema ist bereits seit 20 Jahre aktuell, Digitalisierung ist im Moment zentrales Thema im Gesundheitswesen geworden. Onlinegestützte Betreuungsangebote, wie zum Beispiel die Onlinetherapie, sind zwar noch ein sehr kleines Versorgungssegment. Aber Online-Therapien bedeuten aus meiner Sicht eine bessere und koordinierte Versorgung zwischen den Leistungserbringern – den Krankenhäusern, den niedergelassenen Ärzt*innen, der Pflege, den Psychotherapeut*innen, insbesondere um hier einen raschen Datenaustausch auf den Weg zu bringen. Geplant ist auch die Umsetzung der elektronischen Gesundheitsakten, einer integrierten Dokumentation, bei der Patient*innen die alleinige Verantwortung über den Datenaustausch behalten. Hier besteht zudem die Möglichkeit, diese Daten gegebenenfalls zu löschen. Verschiedene Kassen beginnen nun, ihren Versicherten eine eigene elektronische Gesundheitsakte anzubieten. Wir werden sehen, wo diese Reise hingeht. Ab Ende des Jahres sollen die Praxen der Ärzt*innen und der psychologischen Psychotherapeut*innen vernetzt sein.