Pinel Verbund: Am 12. Oktober ist der Weltkongress der Psychiatrie in Berlin zu Ende gegangen. Im Mittelpunkt des Spitzentreffens von renommierten deutschen und internationalen Psychiatrie-Experten standen die Trends in der Prävention, Diagnostik und Therapie. Herr Dr. Floeth, welche Erwartungen hatten Sie an den Kongress? Wurden diese erfüllt?
Dr. Thomas Floeth: Ich war das letzte Mal 1999 beim Weltkongress, damals in Hamburg. Das war meiner Erinnerung nach das erste Mal, dass auf der Weltebene das Konzept des Trialogs zumindest ansatzweise gelebt wurde. Es gab Veranstaltungen von Psychiatrieerfahrenen – besonders beeindruckend war damals Dorothea Buck, die heute 100-jährig immer noch wirkt – und Angehörigen. Wenn man auf die heutigen Programme schaut, gehören Ansätze dieser Art zwar leider immer noch nicht zum Mainstream, aber längst zu Standardangeboten dieser Großveranstaltungen. Die Vielfalt von 30 bis 40 parallelen Veranstaltungen zu jedem Zeitpunkt an 4 Tagen bei diesem Weltkongress erschlägt einen fast. Bedauerlicherweise ist eine Vielzahl von Veranstaltungen immer noch biologistischer Natur, es geht um kleinteilige Medikamentenwirkungen oder um organische Veränderungen, als könnte man psychische Krankheiten damit erklären.
Pinel Verbund: In Ihren Vorträgen ging es um die Integrierte Versorgung von psychisch beeinträchtigten Menschen. Was muss man sich darunter vorstellen?
Dr. Thomas Floeth: Die Integrierte Versorgung ist der vertragliche Rahmen, in dem der Pinel Verbund momentan ungewöhnliche, ambitionierte Krankenversorgung ausprobieren kann. Solche Verträge, die mit Krankenkassen geschlossen werden können, haben letztlich zum Ziel Lücken in der Regelversorgung zu identifizieren und diese kreativ zu schließen sowie im Rahmen sektorübergreifender Vereinbarungen die Kooperation zwischen Klinik und ambulantem Bereich zu verbessern.
Pinel Verbund: Können Betroffene und ihre Angehörigen beim Pinel Netzwerk die Behandlungsmaßnahmen mitbestimmen?
Dr. Thomas Floeth: Die Basis einer Arbeit auf Augenhöhe wurde von Leuten wie der oben genannten Dorothea Buck gelegt. Gemeint ist damit zum einen, dass Professionelle und KlientInnen in gegenseitigem Respekt und Wertschätzung miteinander umgehen und die KlientInnen als Expertinnen in eigener Sache gesehen werden. Zum anderen, dass Psychiatrieerfahrene und Angehörige hervorragend geeignet sind, um in multiprofessionellen Teams selbst aktiv an der Versorgung mitzuwirken.
Pinel Verbund: Werden im Offenen Dialog unterschiedliche Auffassungen von Betroffenen und Ärzten zu Behandlungsmethoden diskutiert?
Dr. Thomas Floeth: Das kann durchaus passieren. Im Wesentlichen ist der Offene Dialog jedoch eine Kommunikationsform, in dem es weniger um hitziges, rechthaberisches Diskutieren geht, sondern um gemeinschaftliches vorsichtiges Herantasten an mögliche Lösungen.
Pinel Verbund: Hat der Behandlungsansatz konkrete Erfolge vorzuweisen? Werden die Betroffenen schneller wieder gesund, als es bei einem Klinikaufenthalt der Fall wäre?
Dr. Thomas Floeth: In der Tat können Erfolge aufgezeigt werden; empirisch besonders in Westlappland, wo der Ansatz seit Jahrzehnten erfolgreich angewandt wird. Hier tendiert z.B. die Rate der Psychosekranken, die berentet werden müssen, gegen Null. Es ist umso tragischer, dass große Teile von Finnland sich inzwischen wieder traditionellen Versorgungsformen zugewandt haben, während der Offene Dialog in vielen Ländern Europas nun Anwendung findet. Ein anderes Erfolgsmaß sind die vielen berührenden Erfahrungen von neuen Wegen und ungewöhnlichen Entwicklungen, die von TeilnehmerInnen in Netzwerkgesprächen immer wieder berichtet werden. Erfreulicherweise nicht nur im Pinel Netzwerk, sondern zunehmend im gesamten Pinel Verbund, bei anderen psychosozialen TrägerInnen in der Stadt sowie vereinzelt im Kliniksetting.
Pinel Verbund: In Ihren multiprofessionellen Teams arbeiten auch Menschen mit Psychiatrieerfahrung als GenesungsbegleiterInnen. Warum ist ihr Einsatz für Sie so wertvoll?
Dr. Thomas Floeth: Menschen mit Psychiatrieerfahrung, die gelernt haben, diese produktiv für psychische Menschen fruchtbar zu machen, bieten KlientInnen Orientierung („wenn die es geschafft hat, schaffe ich das auch“). Zudem bringen sie in Teambesprechungen sowie in Netzwerkgesprächen eine Perspektivenvielfalt ein, von der alle nur gewinnen können. Ein Team, welches, wie unsere Teams, mindestens zwei Psychiatrieerfahrene als feste MitarbeiterInnen hat, entwickelt eine andere Teamkultur der Wahrnehmung und der Sprache als ein Team, das ausschließlich aus Professionellen besteht.
Pinel Verbund: Welche Patienten können vom Pinel Netzwerk behandelt werden?
Dr. Thomas Floeth: Integrierte Versorgungsverträge haben den Nachteil, nur für die Versicherten zu gelten, deren Krankenkasse einen solchen Vertrag überhaupt anbietet. Im Pinel Netzwerk sind dies besonders die TK, die KKH, Barmer, Siemens BKK und einige andere BKKs.
Pinel Verbund: Übernehmen die Krankenkassen die Behandlungskosten?
Dr. Thomas Floeth: Ja, im Rahmen der vereinbarten Vertragsleistungen und der Vergütungen bzw. Pauschalen, ohne hier jedoch eine Doppelfinanzierung bzgl. der Vergütung in der Regelversorgung zu verursachen.
Pinel Verbund: Welchen Beitrag kann die Integrierte Versorgung bei der Prävention von psychischen Erkrankungen leisten?
Dr. Thomas Floeth: Tatsächlich ist der vom Pinel Netzwerk seit 8 Jahren realisierte Vertrag NWpG (NetzWerk psychische Gesundheit) besonders durch seine präventiven Leistungen erfolgreich. Wenn Menschen, die jahrzehntelang gewohnt waren, bei Krisen eine Klinik aufzusuchen, dies dank der Versorgung durch das Netzwerk nun nicht mehr tun, muss neben einer Krisenversorgung im Akutfall eine Menge Prävention in der Zeit dazwischen erfolgen. Das fängt bei Erstellung von Krisenplänen an und hört bei Stärkung des sozialen Netzwerks der KlienteInnen auf.
Pinel Verbund: Vor welchen Herausforderungen steht die Integrierte Versorgung?
Dr. Thomas Floeth: Anders als wir von unserer fachlichen Sicht als Versorger einen Vertrag einschätzen, müssen die Kassen im Rahmen des Sozialgesetzbuches vordringlich auf die Wirtschaftlichkeit der Verträge und ihre Rentabilität achten. Die langfristigen Effekte unserer Arbeit sind jedoch äußerst schwer zu messen, sodass aufgrund kurzfristiger Effektivitätsüberlegungen manch sinnvolles Programm schmerzhaft verkürzt oder sogar eingestellt wird. Dieses Auf und Ab sowie die Kurzfristigkeit der Verträge sind die größten Herausforderungen der Träger, die sich auf dieses Neuland begeben. Durch die Erfahrungen mit dem neuen Innovationsfonds ist aber zu erkennen, dass von den KostenträgerInnen auch Langzeitbeobachtungen ins Auge gefasst werden.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2017, © Pinel Verbund 2017